Dekonstruktion des Geschlechts

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Noch bevor ich Judith Butler, Riki Wilchins und andere überhaupt kannte oder gar ihre Bücher gelesen hatte, machte ich eigentlich genau das, ich dekonstruierte für mich „Geschlecht“ – nicht nur das Biologische. Für mich war es damals von großer Wichtigkeit herauszufinden, was denn mit Geschlecht überhaupt gemeint ist und was dessen tiefere Natur und Beschaffenheit ist. Ich hoffte darin die Antwort auf die große Frage zu finden: Was bin ich? Mann oder Frau?

Das Resultat ist unerwartet und nachhaltig. Ich sehe mich seit dem nicht mehr in der Lage, Mann und Frau klar zu definieren. Ich weiß wohl, was männlich und was weiblich ist. Genauer müsste man eigentlich sagen, was männlicher und was weiblicher ist, denn auch diese beiden Begriffe sind nicht klar zu definieren. Was aber nun Mann und Frau, _den_ Mann und _die_ Frau, ausmacht, vermag ich seitdem nicht mehr zu sagen.

Ich kann auch heute nicht sagen, ob ich Mann oder Frau bin, wohl aber, dass ich mich deutlich weiblicher als männlich fühle. Doch macht mich dies bereits zur Frau?

In der Folge führte es mich auch dazu, dass ich heute ein kleines Problem habe. Auf der einen Seite kann ich mich selbst nicht völlig als Frau definieren, wäre allerdings dennoch reichlich säuerlich, wenn man mich als Mann identifizieren würde. Macht mich dies dann zur Frau?

Ich glaube nicht.

Ich halte die Dekonstruktion des Geschlechtsbegriffes für enorm wichtig. Wir haben alle ein viel zu dumpf-diffuses Bild von Geschlecht. Schlimmer noch sind sich die meisten über die Implikationen daraus gar nicht wirklich bewusst. Auf der anderen Seite wissen aber gerade wir Trans-Menschen sehr gut, dass es nicht so eindimensional und binär ist, wie man es gerne erscheinen lassen möchte.

Was mich eigentlich am meisten wundert ist, dass selbst die Gender-Studies an den Universitäten in der Regel das Geschlecht als solches gar nicht in Frage stellen. Schaue ich mir bspw. das Vorlesungsverzeichnis und die Veröffentlichungen in Siegen zu dem Thema an, so geht es fast ausschließlich um Gleichstellung. Ohne Zweifel ist das auch wichtig und Teil dessen, was man hier untersuchen sollte. Aber warum nur taucht da praktisch nichts auf, was einmal einen Einblick darin verschaffen könnte, woraus denn dieses „Geschlecht“ besteht oder bestehen könnte?

Denn schlussendlich ist dies eine sehr grundsätzliche Frage, der auch wir uns stellen sollten. In dem wir tun, was wir tun und uns dazu geradewegs gezwungen sehen es zu tun, was sagt dies über die Natur von Geschlecht aus?

Das ist schon ein ganz schön vetracktes Ding…

Mein persönlicher Schluss dazu ist es bisher, ich pfeiffe auf _das_ Geschlecht. Zuallererst bin ich ich, eine Person und Persönlichkeit mit bestimmten Eigenschaften. Dritte nehmen mich nun in der Summe als Frau wahr, und das ist mir recht. Aber ich zeige keine Eigenschaften oder passe mich bewusst an etwas an, nur um damit möglicherweise verbundene Erwartungen zu erfüllen. Einziger Hasenfuß daran ist, warum fühle ich mich dennoch angekratzt, wenn jemand „er“ zu mir sagt? Darauf weiß ich
noch keine schlaue Antwort, denn eigentlich könnte es mir doch egal sein?

Die Dekonstruktion von Geschlecht, die ich für mich selbst betrieben habe, hat mich befreit. Sie hat es mir erst ermöglicht, mich über meine Biologie zu erheben. Erwartungen, die eigenen und auch fremde, konnte ich damit getrost fahren lassen, denn danach wusste ich, an welche Prämissen diese gebunden waren. Prämissen, von denen ich damit erkannte, dass sie nicht auf mich zutrafen.

Ich würde mir wünschen, dass sich alle Menschen damit einmal auseinandersetzten – in dem gleichen Maße, wie man alles scheinbar Selbstverständliche hinterfragen sollte. Ich denke, nur so kann der Weg zu breiter wahrer Akzeptanz führen. Toleranz ist mir eigentlich zu wenig.