In letzter Zeit taucht immer mal wieder an verschiedenen Stellen das Gender Thema, also vor allem das sog. Gender Mainstreaming, auf und ich habe den Eindruck, das ein wichtiger Aspekt darin bisher noch nicht aufgegriffen wurde. Gerade erst stieß ich auf einen Beitrag, der einen Zusammenhang zwischen den oft religiös motivierten Verweigerern der Evolutions-Theorie und Gender-Mainstreaming herzustellen versucht [1]. Der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Ulrich Kutschera versucht anhand der Evolutions-Biologie Gender-Forschung und die gesamte Gender-Theorie zu widerlegen.
Natürlich hat der Biologie Recht indem er sagt, es gäbe eindeutige biologische Geschlechter. Die Biologie definiert das Geschlecht über die Reproduktion. Dasjenige Lebewesen, dass Gameten mit Organellen produziert ist weiblich, das andere ist männlich. Beim Menschen sind die beiden Arten von Lebewesen in der Regel genetisch chromosomal unterscheidbar, weiblich 23-XX, männlich 23-XY in dessen Folge bei erwachsenen weiblichen Menschen die geschlechtsspezifischen Hormone der Östrogene deutlich überwiegen, bei den männlichen Menschen die Androgene. Soweit ist das auch alles in Ordnung.
Doch Evolution basiert auf Varianz. Wenn immer ein und dieselben Lebewesen reproduziert würden, dann gäbe es keinerlei Varianz und entsprechend auch keinerlei evolutionären Fortschritt. Die Evolution käme zum Stillstand. Oder anders gesagt, vermutlich gäbe es heute nichteinmal mehrzellige Lebewesen, wenn nicht irgendwann vor ein paar millionen Jahren einmal eine Zellteilung wegen einer kleinen Mutation nicht vollständig ablief und zwei Zellen nach ihrer Verdoppelung aneinander hängen blieben. Offenbar war dies ein evolutionärer Vorteil. Aus zwei wurden drei, vier, ganz viele. Der Mensch besteht aus
Milliarden solcher Zellen.
Varianz ist der Motor, der nicht nur technologische Innovation erst hervorbringt, sondern der auch in jeder Sekunde die Evolution in der Natur erst ermöglicht. Varianz gibt es dabei nicht nur bei exotischen Mikroben in einer Petrischale, sondern auch direkt bei uns Menschen selbst. Nicht jeder Mensch ist gleich und seine Nachkommen sind nicht das einfache Produkt der beiden Eltern – wir alle wissen das. Wir kennen Varianz in Körpergröße, Augenfarbe, Haarfarbe und praktisch jeder anderen körperlichen Eigenschaft. Alles unterliegt ständigen Schwankungen. Wir kennen und akzeptieren dies, ganz selbstverständlich.
Doch in einem Bereich dieser Schwankungen haben gerade die westlichen Industriegesellschaften ein ganz massives Problem: Geschlechtliche Varianz. Wir halten mit einer Vehemenz am binären Geschlechtermodell fest, die nicht rational erklärbar ist. Dr. Milton Diamond, von der medizinischen Fakultät der Universität Hawaii, hat es einmal ganz treffend formuliert: „Nature loves variety, society hates it.“. In Bezug auf Geschlecht, als eine ordnungs-normative Macht zur Kategorisierung der Gesellschaft, gilt dies ganz besonders, denn medizinisch / biologisch ist diese Varianz ganz klar nachweisbar.
Die US-Amerikanische Biologin Alice Domurat Dreger hat in einem Vortrag einmal gesagt, es seien schon alleine heute mindestens 400 biologisch / medizinisch messbare Eigenschaften bekannt, die in irgendeiner Form Einfluss auf das haben, was wir als Geschlecht bezeichnen – wer weiß heute schon, wieviele wir noch finden werden. Nicht alle dieser 400 sind immer eindeutig oder weisen auf ein und dasselbe Geschlecht hin. Für die meisten Menschen kommt in Summe etwas dabei heraus, was recht eindeutig zu sein scheint. Doch so wie die Varianz bei allem anderen in der Natur immens ist, so ist sie es auch bei unserem menschlichen Geschlecht, auch wenn es nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist.
Da gibt es Menschen mit einem nicht eindeutigen Genotyp, XXY zum Beispiel (Klinefelter Syndrom). Es gibt Menschen, die äußerlich vollständig weiblich erscheinen (Phaenotyp), aber einen XY Genotyp besitzen und auch hormonell eindeutig männlich sind – eine androgen-Resistenz kann dies z.B. bewirken. Es gibt Menschen, die einen XX Genotyp haben, aber einen völlig unauffälligen männlichen Phänotyp – z.B. wegen einer Nebennieren-Hyperplasie, die sehr viel Testosteron ausschüttet. Es gibt Menschen, die mit völlig uneindeutigen äußeren und teils auch inneren Geschlechtsmerkmalen geboren werden – sogenannte Hermaphroditen oder auch intersexuelle Menschen. Die Häufigkeit ist sogar recht hoch, ca. 1,7% bis 4%, je nachdem wen man fragt und was man alles hinzu zählen möchte.
Diese Menschen haben ein Problem in unserer rein zweigeschlechtlich ausgelegten Gesellschaft. Sie stehen ständig unter dem Druck, sich doch für eine der nur zwei angebotenen Seiten entscheiden zu müssen, obwohl sie es eigentlich nicht können, weil sie es schlicht nicht sind. Schlimmer noch, durch diese Cis-Normativität fühlen sich manche Ärzte in der Pflicht, diesen Menschen helfen zu müssen, obwohl diese Menschen keine ärztliche Intervention brauchen, wünschen und teilweise sogar nichteinmal danach gefragt werden. Noch heute werden, ohne dringende medizinische Notwendigkeit, intersexuell geborene Kinder kurz nach der Geburt zwangs-zugewiesen. Nicht normgerechte Genitalien werden zurecht gestutzt, abweichende Keimdrüsen oft entfernt und so werden zudem viele dieser Menschen auch noch unfreiwillig unfruchtbar. Erst 2013 wurde in Deutschland der rechtliche Druck zu solchen Maßnahmen genommen, indem nun endlich nach der Geburt der Geschlechtseintrag offen gelassen werden darf. Bis dahin musste innerhalb von sechs Wochen eine Zuweisung stattfinden! Dennoch überreden viele Ärzte die Eltern nach wie vor zu solchen Zwangsmaßnahmen – wie gesagt, ohne nachweisbare medizinische Notwendigkeit, eigentlich ein Verstoß gegen Artikel 2 des Grundgesetzes.
Doch auch neben diesen organisch teils leicht nachweisbaren Varianzen, gibt es auch eine stetig zunehmende Zahl von Menschen, die sich mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht richtig oder ausreichend beschrieben fühlen. Welche Ursachen dies hat, ist bis heute nicht geklärt. Was jedoch wissenschaftlich hinreichend geklärt ist, ist die Tatsache, dass es sich dabei um zwingende Notwendigkeiten bei den einzelnen Personen handelt. Es ist kein Spleen, kein Tick, kein Fetisch und kein Life-Style, wie es ihnen ab und zu gerne unterstellt wird. Es ist vielmehr eine dringende persönliche Notwendigkeit.
Zudem weiß man heute auch, dass es sich dabei weder um eine psychische Störung, noch um eine Frage der Sozialisation handelt. Diese Menschen können nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind, bekommen aber permanent ein eindeutiges und dichotomes Cis-Normativ vorgelebt und vorgehalten. Ein Normativ, in dem es (noch) keinen oder zumindest kaum Platz für sie gibt. Geschlechtliche Varianz wird von unserer Gesellschaft noch kaum toleriert und allgemein gesellschaftlich schlicht gar nicht abgebildet. Schon alleine der Gang zu einer öffentlichen Toilette kann für solche Menschen zu einem massiven Problem werden, denn sie sind dann (noch) fast überall gezwungen, sich zwischen den nur zwei zur Verfügung gestellten Varianten zu entscheiden – mit allen Konsequenzen, die dies mit sich bringt.
Stell Dir mal vor, Du betrittst wie selbstverständlich eine öffentliche Toilettenanlage und hinter der Tür findest Du ausschließlich Menschen vor, die nicht Deinem Geschlecht angehören. Wie würdest Du Dich fühlen? Doch wohl falsch, oder? Genau so ergeht es Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig oder deren Geschlechtsidentität von ihrem phänotypischen geschlechtlichen Erscheinungsbild abweicht. Diese Menschen können nichts dafür, dass sie so sind, wie sie eben sind, müssen aber in dieser zweigeschlechtlichen Welt genau so bestehen, wie alle anderen auch.
Nimmt man zu den bis zu 4% intersexuellen Menschen noch die vermuteten 1-2% transsexuellen Menschen hinzu (viele Betroffene sagen heute eher „transident“, um den Aspekt der Sexualität heraus zu nehmen, der bei der Frage der Geschlechtsidentität keine Rolle spielt), dann kommt man bereits auf über 5% der Bevölkerung, für die dies ein ständiges Problem darstellt. Nimmt man die noch deutlich größere Gruppe der „Transgender“ im Allgemeinen hinzu, so landet man bei 10-15%. Je liberaler eine Gesellschaft wird, desto mehr Menschen bekennen sich auch dazu. Die Gruppe der Gender-Queer oder Gender-Fluid Personen wächst stetig und stellt auch für die Medizin langsam ein wachsendes Problem dar. Da kommen Menschen zu Ärzten, die mit einigen geschlechtsspezifischen Aspekten ihres Körpers nicht zurecht kommen, weil sie sich damit nicht identifizieren können. Sie definieren sich selbst aber auch nicht völlig dem anderen Geschlecht zugehörig, also nicht als transsexuell. Wie soll die Medizin mit ihnen umgehen? Und noch viel problematischer, wie gehen wir als Gesellschaft mit ihnen um?
Ja, mir geht Gender-Mainstreaming auch teilweise fürchterlich auf die Nerven. Die sprachlichen Auswüchse sind streckenweise hahnebüchend und der schon fast militante Feminismus, der einem dabei auch ab und zu entgegen schlägt, macht es nicht gerade leichter.
Doch ich denke, wir stehen in der Entwicklung eines gesunden gesellschaftlichen Umgangs mit der zweifelsohne vorhandenen geschlechtlichen Varianz gerade erst am Anfang. Da hat noch niemand ein Patentrezept auf Lager und wir werden sehen müssen, wohin uns diese Entwicklung tragen wird. Doch eines kann ich Dir aus eigener Erfahrung versichern, wir müssen handeln. Meine eigene Erfahrung ist die einer Beraterin für Trans* und Inter* Menschen und ich sehe fast täglich, wie diese Menschen unter dem binärgeschlechtlichen (cis-normativen) Druck leiden wie die Hunde; manche sogar so sehr, dass sie für sich als einzigen Ausweg den Suizid sehen. Wenn ich durch soetwas wie ein Gender-Gap, Unisex-Toiletten oder andere niedrig schwellige Mittel den Druck von manchen so weit nehmen kann, dass Depression oder sogar Suizid nicht mehr die scheinbar einzigen Notausgänge sind, dann nehme zumindest ich dies sehr gerne in Kauf.
[1] Evolutionsbiologe Prof. Dr. Ulrich Kutschera
http://www.ruhrbarone.de/humanistische-genderkritik/106017
[2] Wikipedia, Intersexualität
http://de.wikipedia.org/wiki/Intersexualit%C3%A4t