„Hirngeschlecht“ doch Hirngespinst?

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Immer wieder taucht der Begriff „Hirngeschleht“, auch meist im Zusammenhang mit „Geschlechtskörper“ im Rahmen von Trans* Diskussionen auf. Dieser wird hauptsächlich von Dr. Horst-Jörg Haupt aus der Schweiz verwendet und propagiert. Dr. Haupt ist, wie es der Zufall so will, Psychologe und auch Neurologe. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass er Erklärungen für alles mögliche innerhalb seiner Disziplin sucht. Es gibt von ihm eine Hauptarbeit unter [1], die immer wieder gerne zitiert wird. Darin führt er auch den Begriff des „Geschlechtskörpers“ ein, ohne ihn allerdings hinreichend zu definieren. Man kann nur erahnen, dass er damit vermutlich den biologischen Körper und das körperliche Geschlecht meint.

Nun, warum ist das so problematisch? Ich bekomme aus mehreren Gründen immer Bauchschmerzen, wenn ich von „Hirngeschlecht“ höre.

Da wäre zunächst die Neurologie selbst. Wir wissen aktuell noch viel viel zu wenig über das Zusammenspiel aller Neuronen im Körper, als das wir so etwas fundamentales und zugleich so wenig zu lokalisierendes, wie die Geschlechtsidentität, irgendwo in diesem riesigen Apparat verorten könnten. Der menschliche Körper ist vom Scheitel bis zur Fußsohle durchzogen von Neuronen (Nervenzellen) und wir wissen heute immernoch nicht genau, wie diese alle zusammenarbeiten. Wir haben zwar viele Theorien zu einigen Teilen und einiges können wir auch erklären, vieles aber noch nicht.

Erst kürzlich wurde belegt, dass das komplexe Geflecht von Neuronen an und in unserem Darm starken Einfluss auf unser Bewusstsein hat. Haben wir deshalb auch noch ein „Darmbewusstsein“? Nein, das wäre eine starke Übertreibung. Aber was man daraus eindeutig lernen muss ist, dass wir Ursachen für Veränderungen unseres Bewusstseins nicht nur und ausschließlich im Kopf suchen müssen. Ähnlich verhält es sich mit den weiteren großen Nervensystemen im Körper, z.B. dem sympathischen und parasympathischen Nervernsystem, die zusammen mit dem Darm das vegetative Nervensystem [2] bilden. Vielleicht liegt die Wurzel unserer Geschlechtsidentität doch eher dort? Oder vielleicht ist es ein Zusammenspiel aller? Oder doch etwas ganz anderes?

Von unserem Gehirn wissen wir nur sehr oberflächlich, wie es funktioniert. Anhand von vergleichenden Studien kann man erahnen, dass es wohl Zentren mit bestimmten Funktionen im Gehirn gibt, doch gibt es auch immer wieder Gegenbeispiele dazu. Gerade Krankheiten oder Unfälle, die große Areale des Gehirns (zer-)stören führen dazu, dass Theorien verworfen werden müssen. Patient_innen, von denen man nach Stand der Wissenschaft annehmen musste, gar nicht mehr lebensfähig zu sein, leben auf einmal doch. Patient_innen, die eigentlich sämtliche Motorik verloren haben müssten, laufen auf einmal doch wieder etc. Das Gehirn ist viel flexibler, als es oft angenommen wird. Unsere Meßverfahren, selbst so tolle Dinge wie MRT oder PET, können nur schmale, oberflächliche und individuelle Momentaufnahmen abbilden. Worüber sie keinen Aufschluss geben, ist das Große Ganze, die Zusammenhänge, das Zusammenspiel und die übergeordnete Funktion – warum können wir denken? Worin liegt der Ursprung von Bewusstsein? Gibt es einen Ort für das Ich? Und durch was wird es alles bestimmt? Alles dies sind zur Zeit nur Interpretationen.

Ich halte es für äußerst anmaßend, aus Tests an einer vergleichsweise winzigen Probandengruppe den großen Schluss zu ziehen, die Geschlechtsidentität sei im Gehirn anzusiedeln. Fakt ist einfach, dies ist eine von ganz vielen Thesen und sie ist genausowenig bewiesen, wie sie widerlegt ist. Es gibt eine Hand voll Indizien, mehr aber nicht. Es gibt aber mindestens genausoviele Indizien für viele andere Theorien.

Daher finde ich den Begriff „Gehirngeschlecht“ für noch viel zu wenig belegt, um diesen weiter zu propagieren und daher wehre ich mich eigentlich auch so gut es geht dagegen. Ich nehme das gerne an, wenn es wirklich schlüssig bewiesen ist. Doch davon sind wir noch weit entfernt und bis dahin lehne ich den Begriff für mich ab und würde auch jedem anderem raten, mit dem Begriff sehr sehr vorsichtig zu sein.

Doch auch neben der rein biologisch-medizinischen Begründung halte ich die Verengung der Ursachenforschung auf das Gehirn zudem für politisch gefährlich.

Denn nehmen wir mal an, wir würden dem Herrn Dr. Haupt Glauben schenken und akzeptieren, dass die Geschlechtsidentität messbar im Gehirn angesiedelt sei. Das würde dann auch sofort bedeuten, dass für medizinische Maßnahmen oder sogar die Vornamens- und/oder Personenstandsänderung eine neurologische Untersuchung Voraussetzung würde und das diese und nur noch diese die amtlich messbare Voraussetzung für den Zugang zu diesen Maßnahmen würde. Jede noch so große Beteuerung der Betroffenen, würde durch den dann zweifelsfrei neurologisch geführten Beweis nichtig. Eine Situation, deren Auswirkungen ich mir gar nicht ausmalen möchte. Die, die dann immernoch eine abweichende Geschlechtsidentität haben, die aber nicht neurologisch nachweisbar ist, sind dann zwangsläufig „gestört“. Gruselig. Und was ist mit der wachsenden Gruppe von Menschen, die sich gar nicht binär zuordnen können? Diese bekommen dann ihr „Hirngeschlecht“ zwangsweise zugewiesen?

In diesem Sinne, Vorsicht mit der Begrifflichkeit von Dr. Haupt, „Hirngeschlecht“ und „Geschlechtskörper“. Das klingt an der Oberfäche ganz nett, hält aber, meiner Meinung nach, einer genaueren Betrachtung nicht Stand und wirft mehr Probleme auf, als es vermeintlich löst.

Ich stelle mir eigentlich auch die Frage, warum viele so verbissen versuchen, die „Warum?“ Frage zu lösen? Einer der ersten, wie ich finde guten, Ratschläge für Menschen am Anfag ihrer Selbstfindung ist es, aufzuhören nach dem Warum zu fragen. Es macht einfach gar keinen Sinn. Was würde es denn verändern, wenn wir etwas Messbares hätten? Einen Lackmus-Test, einen „Teststreifen“, egal wie er denn dereinst aussehen würde. Er würde, wenn überhaupt, lediglich etwas zur Beruhigung des eigenen Gewissens dienen – „Ah, da ist etwas Messbares, daran liegt es also!“. Doch es ändert rein gar nichts an der Sache. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, ob wir wirklich für alles eine Ursache finden müssen? Können wir uns nicht einfach damit abfinden, dass es eben so ist, wie es ist und das Beste daraus machen?

Nennen wir es doch also einfach mal, abgeleitet vom Bauchgefühl, das „Bauchgeschlecht“ :)

[1]
http://www.trans-evidence.com/Sie_sind_Ihr_Gehirn

[2] Vegetatives Nervensystem
https://de.wikipedia.org/wiki/Vegetatives_Nervensystem