Im Tal der Tränen

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Was tust Du, wenn die Trauer Deine letzten Tränen aus Dir heraus presst und die Wut Dich lähmt, sich aber alles in Dir dieser Ohnmacht zu widersetzen versucht, sich aufbäumt, gegen einen unsichtbaren Widersacher?

Letzte Nacht machte ich einen Fehler. Ich dachte, ich könnte mir noch, ganz unverbindlich, die ersten paar Minuten des Films „A Girl Like Me“ ansehen. Ein dokumentarischer Spielfilm über das Leben und vor allem den tragischen Tod von Gwen Araujo [1]. Im Prinzip kannte ich die Geschichte, dachte ich. Eine junge Transfrau, die 2002 im Californischen Newark einem transphoben [2] Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Der Film stellt die Geschehnisse bis zu ihrem schrecklichen Tod in Rückblenden aus dem Kontext der Gerichtsverhandlung gegen ihre vier männlichen Angreifer dar.

Mit dem Wissen, was passieren würde, war etwa die erste Hälfte des Films noch auszuhalten. Mehrere Rückblenden schilderten ihre Kindheit, die auf diese oder andere Art und Weise sicherlich alle Trans-Menschen sehr ähnlich erlebt haben. Die immer weiter reifende Gewissheit, einfach anders zu sein und das unstillbare Verlangen, dieser Andersartigkeit Ausdruck zu verleihen, führt sehr bald zu einem sich selbst verstärkenden innere und äußeren Konflikt. Die Außenwelt versteht sie nicht, lehnt sie ab, erkennt und akzeptiert sie nicht als das, was sie im Inneren ist und fühlt – ein junges Mädchen, mit allen Wünschen und Träumen, die junge Mädchen nunmal haben. Nur für sie waren sie nicht erreichbar und nicht lebbar. Jeder Versuch führt zu äußerer Ablehnung und wieder neuen Konflikten, bis sie sich selbst in Frage stellt, ja stellen muss. Bin ich falsch oder ist mein Umfeld falsch?

Selbst Betroffene sehen solche Schilderungen mit gemischten Gefühlen. Sie haben sehr oft ähnliches durchmachen müssen und identifizieren sich dadurch sehr stark mit einer solchen Person. So auch ich. Es kam mir alles auf die ein oder andere Art bekannt vor – abgesehen von dem Detail, dass ich nie eine Beziehung mit Jungs eingehen wollte. Doch alles andere? Oh ja! Die Selbstzweifel, gerade in der frühen Jugend, das Gefühl, falsch und einfach nur kaputt zu sein, das Hirn zermarternd, warum man diese Gefühle hat, warum ich? Und warum schien bei allen anderen alles so normal zu sein, nur bei mir nicht? Das Selbstwertgefühl geht gegen Null, das Selbstwusstsein gleich mit und man wird zum Spielball der „Normalen“. Kaum ein Tag vergeht, an dem man nicht gehänselt, ausgegrenzt, drangsaliert und ausgestoßen wird, wegen etwas, für das man nichts kann und das man selbst nicht beeinflussen oder steuern kann. Für alle anderen ist man das perfekte Opfer.

Im Film spitzen sich langsam die Ereignisse zu. Die Konflikte werden drastischer, das Kind wird zum jungen Menschen, zu einer jungen Frau, die nicht anders kann, als ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen – und dadurch endlich ein wenig Akzeptanz erfährt, doch damit auch angreifbarer wird. Ihr Körper ist nach wie vor männlich, doch sie lebt nun ihr Leben, wie es Ihrer Identität entspricht. Doch die Konflikte nehmen nicht ab, sie werden härter und gehen tiefer. Jetzt geht es nicht mehr nur um Äußerlichkeiten, sondern um Liebesaffären mit jungen Männern und den daraus resultierenden Problemen. Niemand weiß von ihrer Andersartigkeit – noch nicht. Ich kann es mitfühlen, wie Gwen in diesen Strudel gesogen wird. Gefangen im Konflikt zwischen Notlüge und Identität, zerrissen zwischen Identität und Realität.

Das Vorwissen über die Geschichte beginnt mir die Kehle zuzuschnüren.

Ich weiß nur zu gut, in welcher unmenschlichen Hölle sie nun gefangen ist. Eine Hölle ohne Ausweg und Hilfe. Als Ihre Mutter erfährt, welchen Problemen und teils tätlichen Angriffen Gwen tagtäglich ausgesetzt ist, beginnt sie zu verstehen und stellt sich endlich schützend vor sie und verteidigt sie in ihrer Familie.

Ich ringe mit den Tränen.

Doch es ist bereits zu spät. Vier männliche Jugendliche schmieden heimtückisch einen Plan, locken Gwen in eine Falle und zwingen sie, ihr „Geheimnis“ zu offenbaren. In den folgende FÜNF Stunden wird sie immer wieder geschlagen, verprügelt, getreten und schlussendlich erwürgt. Fünf Stunden Folter, fünf Stunden unaussprechlichen Leids, Qual, Überlebenskampf, bis zu Ihrem qualvollen Tod.

Ich beginne heftig zu weinen – und höre nicht mehr auf.

Durch einen Ozean der Tränen muss ich mit ansehen, wie ihr Tod die Spaltung der Gesellschaft aufzeigt. Von tiefstem Mitgefühl, Anteilnahme und Akzeptanz des Menschen und der Person, bis hin zu blinder Verblendung und blankem Hass auf alles Andersartige. Es gab sogar welche, die es zu rechtfertigen versuchten, indem sie Gwen selbst Schuld an allem gaben.

In mir steigt Wut auf und verbündet sich mit nicht endender Trauer.

Die Gerichtsverhandlung endet, die letzten Vernehmungen und alles wird reduziert, auf ein abscheuliches Gewaltverbechen. Doch warum es dazu kam, kommt nicht zur Sprache. Es wird vielmehr ignoriert und bewusst ausgeblendet. Das Resultat ist eine Verurteilung wegen Totschlags. Die Heimtücke, die niederen Beweggründe und die Tatsache, dass es sich klar um ein geplantes Hassverbrechen handelt, blieben unberücksichtigt. Justizias Blindheit ist nicht immer ein Vorteil.

Meine Trauer und Wut bekommen einen neuen schrecklichen Gesellen – Ohnmacht.

Alles ist in Tränen getränkt und ich finde diese Nacht kaum Schlaf.

Einige schreckliche Erkenntnisse steigen langsam in mir auf.

Bis vor einem Jahr spielte sich bei mir noch alles in meinem Kopf ab. Nicht schön, aber äußerlich war ich ein „normales“ männliches Mitglied der Gesellschaft. Weiß, männlich, eurasisch und auch sonst kein Mitglied irgendeiner Minderheit. Diskriminierung jeglicher Art fand ich natürlich schlimm, aber sie war mir fern. Ich musste nie ins Kalkül ziehen, auch nicht auf Reisen in die entlegensten Winkel der Erde, dass ich wegen einer meiner Eigenschaften irgendwo Diskriminierung erfahren könnte. Selbst als Ausländer ist man als Europäer eigentlich überall gut angesehen.

Jetzt aber, indem ich mich zu mir selbst, meiner Identität und Persönlichkeit bekenne und dies offen und sichtbar lebe, katapultiere ich mich aus der vermeintlichen Mitte hinaus an den Rand der Gemeinschaft. Ich gehöre nun in mehrfacher Hinsicht zu einer gefährdeten Randgruppe.

Ich bin weiblich und schon alleine dies ist in vielen Regionen der Welt ein gewaltiger Nachteil, wenngleich etwa die Hälfte aller Menschen Weiblich sind! Worüber ich zuvor zwar nachdenklich den Kopf schüttelte, wird nun zu einer realen Einschränkung. Kann ich noch ungehindert überall hin reisen? In Saudi dürfte ich jetzt nichteinmal mehr Auto fahren! Indem ich mir bewusst das Recht gab, so zu leben, wie es für mich richtig ist, habe ich unbewusst andere Rechte aufgegeben.

Zudem bin ich auch noch Trans*. Ich habe die Dreistigkeit besessen, meine Identität über die Biologie zu erheben. Ich widersetze mich der vermeintlich Natur gegebenem Ordnung der Dinge. Ich zwinge meine Mitmenschen dazu, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen. Und dann bricht heraus, was wir schon lange überwunden glaubten – Urängste vor dem Anderen. Auf einmal sind Jahrhunderte der Aufklärung und des Humanismus dahin. Reflexartig wird auf einmal mit allen gerade zur Verfügung stehenden Mitteln ein Vernichtungsfeldzug gegen alles ausgerufen, dass nicht in das archaische Weltbild zu passen scheint. Nach einem Warum wird nicht gefragt.

Wir haben die Zeit der Glaubenskriege keinesfalls hinter uns gelassen. Die Schlachtfelder sind nur andere. Die Zivilisationsdecke, die Andersartige, wie mich, trägt, ist dünn. Und all zu oft bricht sie ein, so wie es 2002 bei Gwen leider passierte. In den letzten 12 Jahren, seit ihrem gewaltsamen transphoben Tod, hat sich zwar einiges zum Besseren verändert, doch sind wir lange noch nicht am Ziel. Was zuvor eine dumpfe Bedrohung für andere war, wird nun auf einmal für mich eine reale Angst. Das ist eine neue und sehr beunruhigende Erfahrung für mich.

Ereignisse und vor allem die Art und Weise der Ereignisse, wie sie Gwen widerfuhren, gibt es nach wie vor. Und nach wie vor sind es die gleichen Mechanismen und die gleichen Motivationen und Motive jener selbsternannten Säuberer und Aufrechterhalter der angeblichen moralischen Integrität der Gesellschaft. Moral und Normvorstellungen, die mit nichts zu rechtfertigen sind, als einer angestaubten und brüchigen Tradition.

Es ist ein ungleicher Kampf, den diese Minderheiten, zu denen ich jetzt zweifelsfrei gehöre, gegen einen übermächtigen Gegner zu führen haben. Menschen wie Gwen und die Millionen weitere „Anderer“ können aber nicht anders, als ihn zu führen. Denn gäben wir auf, so müssen wir gleichfalls den Anspruch aufgeben, ein selbstbestimmtes und selbstverwirklichendes Leben führen zu können. Selbstbestimmung und persönliche Selbsterfüllung sind Grund- und Menschenrechte. Rechte, die jedem Menschen, sei er auch noch so anders, zustehen und für die wir selbst einstehen müssen. Wir müssen sie uns selbst erkämpfen und selbst erhalten. An unserer statt wird es niemand für uns tun.

Ich glaube, dieser Kampf wird nie enden und er darf auch nie enden. Minderheiten und Randgruppen werden immer Minderheiten und Randgruppen bleiben. Sie laufen deshalb immer Gefahr, von der Mehrheit unterdrückt und in ihren Grundrechten beschnitten zu werden. Es gibt keine Epoche und keine Region auf dieser Erde, in der dies nicht der Fall gewesen wäre und sogar bis heute so ist.

Auch wenn es wie ein aussichtsloser Kampf erscheint, so ist jede_r Angehörige einer Minderheit dazu aufgerufen, die eigene Ohnmacht zu überwinden und aktiv, wo immer dies nötig erscheint, für die Rechte einzutreten, die ihr zustehen. Nur weil man akut keine Bedrohung für sich selbst sieht, bedeutet es noch lange nicht, dass es keine gäbe. Wie dünn die uns tragende Decke ist, sieht man immer wieder. Ablehnung und Resentiments wachsen langsam, bevor sie offen zu Tage treten. Sind sie aufgestaut, braucht es nur noch einen auslösenden Moment, um die niedrigsten Instinkte zu wecken. Doch dann ist es zu spät, viel zu spät, selbst für Schadensbegrenzung.

Wir müssen viel früher tätig werden, noch lange bevor Anzeichen sichtbar werden. Dies ist eine Erkenntnis, die langsam in mir reifte. Zuvor hielt ich es auch für Panikmache und unnötige Hysterie. Nur leider führen Randgruppenprobleme auch schnell zu gewalttätigen Vorfällen, von denen jeder einzelne bereits einer zuviel ist. Nur weil ein Mensch ist wie er ist, darf er niemals unterdrückt und schon gar nicht Opfer von irgendeiner Form von Gewalt werden.

Nein, es war doch kein Fehler, den Film gesehen zu haben.

Es war vielmehr ein Weckruf, ein nötiger.

[1] Wikipedia, The Murder of Gwen Araujo
https://en.wikipedia.org/wiki/Murder_of_Gwen_Araujo

[2] Wikipedia, Transphobie
http://de.wikipedia.org/wiki/Transphobie