Leider liest man immer wieder, vor allem innerhalb der Trans*-Communities selbst, viel von vermeintlichen Kategorien von Trans* – da ist von Transsexualität, Transidentät, Cross-Dresser, Transvestit, DRAG etc. die Rede. Doch oft geschieht dies mit einer recht eindeutig mitschwingenden Wertung und vor allem auch Abwertung.
Ich möchte hiermit dafür eintreten, dass wir Trans*-Personen selbst davon Abstand nehmen zu versuchen, anderen Trans*-Personen solche Kategorien überzustülpen und sie damit in irgendeiner Form zu bewerten. Dies steht schlicht niemandem, als der jeweiligen Person selbst zu. Die Selbsteinschätzung einer Person anhand (k)eines OP Wunsches in Frage zu stellen, entspricht bereits seit einigen Jahren nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Forschung. Einen OP Wunsch als verpflichtendes Diagnosekriterium gibt es nicht mehr. Ein solcher macht auch gerade im Hinblick bspw. auf Transmänner keinerlei Sinn, da dort die Ergebnisse der Phallo-Plastiken nach wie vor stark zu wünschen übrig lassen. Dort dann eine OP als zwingende Voraussetzung zu machen wäre töricht und für die Betroffenen völlig unzumutbar. Gleiches Recht haben dann natürlich auch Transfrauen, denn auch für sie sind Risiken und Nebenwirkungen einer OP ebenso real. Auch bei GaOPs MzF ist nicht alles immer rosig, es gibt Komplikationen und es gibt genug Fälle, die im Anschluss nicht mehr orgasmusfähig sind. Verzichtet man also zur Vermeidung von Komplikationen und chronischen Nebenwirkungen auf eine GaOP, warum sollte man dann gleichzeitig auf Sex verzichten müssen? Oder das Thema aus der Diskussion ausklammern? Sexualität gehört zu einem vollständigen menschlichen Leben dazu und jede Person hat ein Recht darauf, also auch Trans*-Personen, die keine GaOP haben machen lassen. Die Frage nach den Auswirkungen der Hormone auf die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr ist daher auch völlig berechtigt.
Hinzu kommt auch noch die Reproduktionsfähigkeit, also Zeugungsfähigkeit bei Transfrauen bzw. Empfängnisfähigkeit bei Transmännern. Die Zeugungsfähigkeit muss nicht zwangsläufig völlig verloren gehen. Sie geht während der weiteren Hormonbehandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen verloren, ja. Doch würde man diese wieder unterlassen und ggf. mit etwas Testosteron nachhelfen, so kann auch wieder eine Spermagenese anlaufen (dies wurde in Studien untersucht). Das ist allerdings nicht zu 100% garantiert, daher sollte man zumindest den dauerhaften Verlust der Zeugungsfähigkeit einkalkulieren, doch es ist keine zwingende Konsequenz. Mit etwas Glück kann man sie wieder herstellen, sollte man eigene Kinder zeugen wollen. Sperma zuvor einzufrieren, könnte aber auch eine Möglichkeit sein. Es gibt mittlerweile auch eine ganze Reihe von Transmännern, die Jahre nach ihrer Transition Kinder geboren haben – einfach großartig! Hätten sie „das volle Programm“ machen lassen „müssen“, so wäre auch ihnen dies nicht mehr möglich gewesen.
Und last but not least möchte ich ausdrücklich davor warnen, eine Art Hierarchie von Trans* aufzumachen. Ob jemand eine GaOP anstrebt oder nicht, macht sie/ihn nicht mehr oder weniger Trans* als irgendjemand anderes. Dies spiegelt sich in allen aktuellen medizinischen als auch rechtlichen Entwicklungen wieder. Dort ist fast ausnahmslos nur noch von der Selbsteinschätzung des Individuums als einzig maßgebliches Kriterium die Rede und nicht mehr, welche Veränderungen und/oder welche Art und Weise eines weiteren Lebensweges man anstrebe. Genau dies führt auch in der Folge dazu, dass die Narrative der Betroffenen sich wieder beginnen zu diversifizieren. In den Jahren der starren Diagnose- und Richtlinienkataloge hat sich eine Uniformität bei den Betroffenen eingestellt. Man weiß, was man wem erzählen muss, um an diese und jene Maßnahmen zu kommen. Dies hat zwangsläufig auch wieder eine reflexive Wirkung auf die Betroffenen selbst, denn sie wissen was sie wollen, wissen aber, als was und wie sich zu erkennen geben müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Durch die zunehmende Flexibilisierung ist bereits jetzt zu beobachten, dass zum einen das Durchschnittsalter von Jahr zu Jahr sinkt, aber vor allem auch, dass die Fallzahlen von Menschen, die sich nicht mehr eindeutig binär definieren können oder wollen, aber dennoch auch medizinische Maßnahmen anstreben, steigen.
Ein Zufall? Nein, das glaube ich nicht. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass wir wegkommen müssen von den selbst auferlegten Zwängen und den scheinbar selbstverständlichen Abfolgen – Therapie -> VÄ/PÄ, Hormone -> OP. Dies mag für viele so passen, doch zur Zeit zwingt es noch viele in dieses Raster, für die eigentlich ein anderer Weg besser geeignet wäre. In Ländern, in denen gerade größere Reformen der Regelwerke stattgefunden haben, wird dies bereits erfolgreich umgesetzt, so zum Beispiel in Argentinien. Die immer wieder gerne zitierten negativen Folgen einer Liberalisierung, z.B. ein Missbrauch oder explosionsartiger Anstieg der Fallzahlen, sind dort nachweislich nicht eingetreten. Eher im Gegenteil ist die Zahl der „Rückkehrer“, also die Zahl derer, die den Schritt später bereuten, sogar leicht zurück gegangen und die allgemeine Zufriedenheit mit der persönlichen Situation gestiegen.
Die Begriffsdebatten, die wir hier in Deutschland bei solchen Themen immer wieder aufmachen, finden im Ausland komischerweise so gut wie gar nicht statt. Sie finden vor allem in den Ländern gar nicht statt, in denen von der Kategorisierung nichts mehr abhängt. In Argentinien bspw. ist es völlig unerheblich, ob ich mich als transsexuell, transvestitisch, Cross-Dresser oder schlicht trans* selbst beschreibe. Es spielt keine Rolle mehr und entsprechend spielen die Begriffe keine so große Rolle mehr, wie sie es hierzulande noch tun. Ich plädiere daher sehr dafür, dass auch wir uns beginnen von den Kategorien und ihren Definitionen zu lösen. Es spielt für die Betroffenen keine Rolle, denn für sie ist einzig interessant, wie sie ihre Ziele erreichen können, nicht wie sie sich selbst definieren müssen. Die Ziele müssen sie selbst definieren und nicht aus der Definition einer vorgefertigten Kategorie ablesen.
Wenn wir nun alle Kategorien über Board werfen, dann könnte ja jeder kommen und medizinische Maßnahmen einfordern, auch der Mann eine Epilation, weil ihm das Rasieren zu lästig wird?
Nein, denn die Behandlungsbedürftigkeit richtet sich nicht nach der Kategorisierung in Transsexuelle, Transgender, Transvestiten, Cross-Dresser etc. sondern danach, wie sehr eine Person eine bestimmte Behandlung braucht. Diese Notwendigkeit muss ohne Frage, bevor die Solidargemeinschaft in Anspruch genommen wird, klar nachvollziehbar sein. Für den medizinischen Weg kann daher nicht eine einfache Selbstaussage „Ich hätte das gerne.“ ausreichen. Ich würde das sogar noch ein wenig weiter differenzieren wollen, denn wir haben dabei hier in Deutschland zwei Problemfelder, erstens die Ärzte und zweitens die Kostenträger, also die Krankenversicherungen. Bei beiden muss man zur Zeit, stark reglementiert, mehrfach psychologisch bestätigt seine „Transsexualität“ nachweisen, um an irgendwelche Maßnahmen zu kommen. Das halte ich für nicht richtig.
Von den Ärzten würde ich erwarten, dass sie nach einem informierten Einverständnis (engl. „informed consent“) vorgehen, so wie es in einigen Ländern bereits Praxis ist. In diesem Modell werden die Patient_innen über die Folgen ihres Ansinnens aufgeklärt und, ggf. nach einer festgelegten (kurzen) Bedenkzeit und schriftlicher Erklärung der Patient_innen, dass die Aufklärung stattgefunden und sie sich über die Folgen im Klaren sind, die Behandlung durchgeführt. Genau so wird auch in anderen Bereichen vorgegangen, z.B. freiwillige kosmetische Operationen etc., die teils mindestens ebenso schwerwiegend sind, wie das, was Trans*-Personen von Ärzten erwarten. Dieses Vorgehen erfordert dann kein stereotypes Selbstbekenntnis bzw. Unterordnung zu einer bestimmten Kategorie oder psychiatrischen Diagnose.
Angenommen man würde alles selbst bezahlen, könnte es damit schon gut sein. Doch selbst wenn man alles selbst bezahlen wollte und könnte, würde man Stand heute dennoch nicht an die gewünschten Behandlungen kommen, da kein Arzt dazu bereit wäre. Dies ist eine nicht nachvollziehbare und nicht rational erklärbare Entmündigung der Betroffenen. Es ist ihr eigener Körper, über den sie selbst frei bestimmen können sollten – wie gesagt, zunächst unter der Prämisse, dass man für alles selbst aufkommt.
Kann man sich das alles nicht selbst leisten und ist auf die finanzielle Unterstützung der Solidargemeinschaft der Krankenkassen angewiesen, dann ist es nachvollziehbar und wie ich finde auch gerechtfertigt, dass man die Notwendigkeit der angestrebten Maßnahmen auch plausibel darlegen kann. Hier kommt der berühmte Leidensdruck ins Spiel, der im Übrigen genauso auch für andere bspw. kosmetische Operationen bei Cis-Menschen als Begründung völlig ausreicht, ohne gleich eine Körper-Dysphorische Störung nachweisen zu müssen. Auch Cis-Frauen bekommen z.B. Nadel Epilation im Gesicht ersetzt, wenn sie einen ungewöhnlich starken Haarwuchs im Gesicht haben und sie dieser belastet, Cis-Frauen bekommen eine Hormonersatztherapie verschrieben, wenn sie im Klimakterium sind und sie dies belastet etc. Die medizinische Notwendigkeit muss vorhanden sein.
Diese medizinische Notwendigkeit würde ich ebenfalls wiederum nicht von einem vor fast 100 Jahren zum ersten mal beschrieben Bild abhängig machen. Nicht jede Person ist gleich und die Lebensrealität und Gesellschaft ist heute völlig anders, also vor ca. 100 Jahren. Dennoch klammern sich viele immernoch an diese starren und teils extrem klischeehaften Bilder von Geschlecht. Ich verstehe nicht, warum ich einem Menschen die Selbsteinschätzung und Selbstwahrnehmung absprechen soll oder kann. Wenn eine Person von sich sagt, sie leidet unter ihren männlichen Hormonen und möchte stattdessen lieber weibliche in sich haben (oder umgekehrt), mit all den daraus, im wahrsten Sinne, erwachsenden Folgen, warum sollte man das nicht respektieren? Wenn diese Person nach intensiver Aufklärung und vielleicht einer Wartezeit immernoch dieser Überzeugung ist, dann kann man nicht anders und ihr dies zugestehen, das Ansinnen respektieren und, in den Grenzen der Umsetzbarkeit, dieser Person helfen.
Genau dies spiegelt sich auch in den Weiterentwicklungen der Behandlungsrichtlinien wider – zwar noch nicht in den uralten in Deutschland, die von 2009 sind, aber in anderen, wie den Standards of Care V7 der WPATH. Darin ist zwar nach wie vor nicht alles 100%ig so, wie man es sich wünschen würde, aber zumindest das informierte Einverständnis ist darin als Vorgehen genauso verankert, wie der uneingeschränkte Respekt gegenüber der Selbsteinschätzung der Person. Es gibt keinen festgelegten Diagnose-Kanon mehr und entsprechend auch keine Festlegung von Vorgehen oder Möglichkeiten für bestimmte „Trans*-Formen“, denn diese werden darin schlicht gar nicht beschrieben – gleiches gilt im Übrigen für die immer weicher werdende Diagnosestellung für das, was man einst als „Transsexualität“ bezeichnete, was im ICD-10 bereits zu einer dysphorischen Störung wurde und im ICD-11 als gender incongruence eine schlichte Normabweichung darstellt und ebenfalls nicht mehr mit einem konkreten Diagnose-Kanon beschrieben wird.
Der ICD-11 wird in dieser Form recht sicher kommen und dann auch in Deutschland als ICD-11-GM umgesetzt werden, die alte Diagnose F64.0 „Transsexualität“ wird dann, das wird voraussichtlich 2017 sein, nicht mehr existieren. Schon alleine deshalb _müssen_ wir weg von diesen alten Bildern und diesen alten Diskussionen. Wir, als Betroffenengruppen, können doch schlecht der medizinischen Entwicklung hinterher hinken? Wir haben seit Jahrzehnten genau diese Entwicklung (ein-)gefordert? Und nun wollen wir selbst das Rad zurück drehen, aus vorauseilendem Gehorsam, es könnten ja vielleicht dann Personen Leistungen wünschen, die dazu nicht „berechtigt“ sein könnten? Nein nein, so kann das nicht funktionieren. Ich bin hier ganz klar für einen respektvollen und wertschätzenden Umgang mit den Hilfe suchenden Personen, egal wie und als was sie sich selbst bezeichnen oder definieren. Wer es ohne Leiden anstrebt, der_die soll zumindest die Möglichkeit dazu bekommen die angestrebten Ziele zu erreichen, muss aber dann auch selbst dafür aufkommen. Und wer leidet, dem _muss_ ohne Frage geholfen werden, mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen und aus Mitteln der Solidargemeinschaft, denn genau dafür ist sie da.
Ich gebe völlig offen zu, dass es hier ein Spannungsfeld zwischen ärztlicher Behandlung und den Kostenträgern gibt. Doch ich plädiere sehr dafür, das wir dies erstens in der Diskussion klar voneinander trennen und das wir zweitens Kategorisierungen, insbesondere in der Form einer Fremdzuschreibung oder Bewertung, wo immer es irgendwie möglich ist vermeiden.