Die Zeit vor dem Beginn einer möglichen Veränderung, womöglich einer Transition, ist für die meisten Trans*-Menschen anstrengend und zermürbend. Man hat bereits ein Leben und soll dies dann, zumindest in Teilen, aufgeben? Man fühlt sich hin und her gerissen zwischen der inneren Stimme und dem Leben um einen herum.
Auch ich war an diesem Punkt, been there, done that. Es gab Zeiten, in denen ich schon fast verzweifelt versuchte, alles zu verleugnen und mich zu zwingen, wieder „normal“ zu sein, zu entsprechen, mich anzupassen, aus reiner Angst, die Veränderung könnte für Ablehnung und große Verluste sorgen. Es ist, denke ich, auch völlig nachvollziehbar, dass man so große Angst davor hat. Der Entschluss wird das eigene Leben mächtig umkrämpeln, hier und da für mehr oder weniger große Verwirrung sorgen, er wird für Verluste sorgen und er kann sicherlich auch langfristig die ein oder andere Narbe hinterlassen. Dieser Entschluss und dieser Weg ist nicht kostenlos, keineswegs.
Doch man kann dabei auch soo unglaublich viel gewinnen. Der Einsatz ist hoch, doch der mögliche Gewinn noch viel höher.
Hmm… wie beschreibe ich das am besten? Vielleicht nicht so abstrakt, konkrete persönliche Erfahrung macht es vielleicht deutlicher. Das Hin und Her hatte ich wie gesagt auch, etwa 20 Jahre lang. Mit mehr oder weniger großen Amplituden und mehr oder wenig hoher Frequenz. Ich musste erst 42 werden, um an den Punkt zu kommen, auch dauerhaftere Veränderungen konkret in Erwägung zu ziehen. Es hat dann nocheinmal ein gutes Jahr gebraucht, bis endlich die Klappe fiel. Die Zeit vorher war genau dieses ewiges Hin und Her, ich redete mir viel ein und auch wieder aus, fragte mich, warum es immer in solchen Phasen stattfindet. Mal ging es mir gut und ich verschwendete daran kaum einen Gedanken, mal war es kaum noch auszuhalten. Was mich damals vor allem fertig machte, waren Schuld- und Schamgefühle, das ganz klare Gefühl, dass all dies falsch, „unnormal“, abartig und vor allem völlig ohne Zukunft war. Am schlimmsten war es zu der Zeit, als ich alleine, also ohne Partnerin war. Wenn man es immer nur versteckt, unterdrückt und niemanden hat, um es zu teilen, ohne auch nur den Anflug von Akzeptanz zu spüren, dann frisst es einen auf. Zumindest mich hat es massiv zermürbt.
Jetzt muss ich sagen, dass ich ein recht stabiler Mensch bin. Ich kann sehr viel aushalten, psychisch und physisch. Ich kann mich an eine Begebenheit in meiner Kindheit erinnern, ich war vielleicht acht oder neun. Wir hatten damals ein Auto mit fünf Sitzen aber nur drei Türen. Ich saß, dem Alter entsprechend, hinten. Zum Aussteigen musste man den Vordersitz umklappen und konnte dann von hinten rauskrabbeln. Dazu war es praktisch, sich im Türfalz festzuhalten, damit man sich nach vorne ziehen kann. Einmal, blöde Situation, wir hatten noch eine Bekannte dabei, meine Mutter und sie wollten kurz aussteigen, versuchte ich hinterher zu kommen, klappte den Sitz nach vorne, hielt mich in dem Türfalz fest und – bumm – die Bekannte schlug die Tür zu. Die Tür ging nicht ganz zu, denn meine Finger waren dazwischen. Die beiden bemerkten das nicht. Ich wusste, sie würden gleich wieder einsteigen, also sagte ich nichts, ich wollte ihnen kein Ungemach bereiten. Ich hing einfach dort an die Tür gefesselt und wartete still – und hielt es aus. So ging es mir eigentlich ständig in meinem Leben. Etwas für mich einzufordern, von dem ich wusste, dass es eventuell ein Nachteil für andere sein würde, stand nicht auf meiner Agenda. Ich nahm mich lieber selbst zurück und nahm es hin.
Ich denke, dass ist zumindest für mich der Grund, warum ich so lange brauchte, um endlich meinen Weg zu beginnen. Es musste erst sehr schmerzlich werden, damit ich endlich begann, für mich etwas einzufordern, wohl wissend, dass ich damit anderen Ungemach bereiten würde.
Eine große Hilfe war mir dabei meine Partnerin, mit der ich seit 2001 zusammen bin. Ihr musste ich es von Anfang an sagen, da meine vorherigen Beziehungen allesamt an dieser Geheimniskrämerei gescheitert sind. Sie gab mir das erste mal das Gefühl und die Sicherheit, dass es OK war, das ich nicht krank sei und das sie den Menschen liebte, nicht seine Verpackung. Über die letzten knapp 15 Jahre konnte ich so einen zunehmend normaleren Umgang mit mir selbst entwickeln. Das war für mich nicht leicht, denn 20 oder 25 Jahre vorherige Selbstverleugnung legt man nicht so einfach ab.
Die Reise zu mir selbst begann dann Mitte / Ende 2013. Es gab, denke ich, zwei wichtige Wendepunkte. Der erste war die Erkenntnis, dass es so nicht mehr weiter gehen könne. Das war etwa im August 2013. Wie es weiter gehen sollte wusste ich da auch noch nicht, aber klar war, es musste sich etwas verändern. Alleine diese Erkenntnis sorgte dafür, dass fast erdrutschartig die Scham- und Schuldgefühle fast völlig aufhörten – und mit ihnen einige seit über 30 Jahren antrainierte Übersprungshandlungen, von denen ich hier lieber nicht sprechen möchte. Was ich aber sagen kann ist, dass ich seitdem an die Macht der Psyche glaube. Eigene Verhaltensweisen, Ansichten und vermeintlich dringende Notwendigkeiten (die Teil dieser „Übersprungshandlungen“ waren), die ich in den letzten gut 30 Jahren nie habe zum Erliegen bringen können, fielen auf einmal ab wie Schuppen. Einfach weg und kamen auch bisher nicht wieder – und werden es auch nicht, dessen bin ich mir recht sicher.
Was passierte war vermutlich, im Nachhinein betrachtet, dass ich mich endlich, nach gut 35 Jahren der Zweifel, selbst akzeptierte. Ich stellte mich nicht mehr selbst in Frage. Ich konnte das, was da war, endlich als einen Teil von mir annehmen und dazu stehen – das war ich und es gehört zu mir. Damit war noch keine Entscheidung zu irgendetwas getroffen, doch ich konnte nun endlich beginnen, mir über all das klar zu werden. Das war ganz schön spannend und großartig! Ich habe auf einmal viel freier handeln können, habe mir ungeniert recht eindeutige Bücher gekauft (was ich mich vorher NIE getraut hätte) und habe diese und das gesamte Internet hoch und runter gelesen. Ich wollte nun wissen, was ich aus all dem machen müsse.
Natürlich steht nirgendwo das große Einmaleins des Trans*seins. So wusste ich zwar Ende 2013 viel mehr und war auch bereit etwas zu tun, doch eine Sicherheit, die hatte ich immernoch nicht. Ich ging zu einem Psychologen, denn ich dachte mir, sollte ich eine Transition machen wollen, dann brauche ich ohnehin einen und bis dahin kann er mir vielleicht mit ein paar guten Fragen helfen, Klarheit zu erlangen. Konnte er nicht, denn der stellte sich statt Trans* Experte als eine rechte Schlaftablette mit hohlen Versprechungen heraus.
Die freien Tage zwischen den Jahren 2013 und 2014 sowie die ersten Januar Tage 2014, waren die Hölle. Ich hatte zum ersten mal in meinem Leben soetwas wie Panik-Attacken – Herzrasen, Schweißausbrüche, das Verlangen, einfach nur zu flüchten, alles hinter mir zu lassen, der Entscheidung zu entkommen. Ich wusste was ich hatte, was ich im Leben erreicht hatte und auch wie es wohl weiter gehen würde. Und nun sollte ich das alles nur wegen ein paar seltsamer Gefühle über den Haufen werfen? Alles riskieren? Viele mir wichtige Menschen völlig verwirren und verunsichern? Möglicherweise eine ganze Reihe davon verlieren? Und wozu das alles? Ich habe doch dieses Leben, das eigentlich ganz gut funktioniert?
Mitte Januar 2014 war ich dann an dem Punkt, an dem ich nicht mehr konnte und auch nicht mehr wollte. Die Kraft zum Aushalten war am Ende.
Also sprach ich mit meiner Partnerin und nach ein paar Tränchen kamen wir gemeinsam zu dem Schluss, dass es wohl besser sein wird, den Sprung zu wagen. So wie es war ging es nicht mehr, ich wurde in den letzten Jahren immer mürrischer, unleidlich, unfreundlich, einfach unglücklich. Das Leben floss wie abgestumpft an mir vorbei, ich kapselte mich sozial immer weiter ab und war weitgehend freudlos. Das konnte so nicht weiter gehen und wenn eine Transition eine Möglichkeit sein könnte, dann müsste ich es zumindest mal versucht haben. Ein Stein, ein ganzes Gebirge fiel mir vom Herzen, als ich mir ihrer Zustimmung und Unterstützung gewiss war.
Mit diversen Vorbereitungen und Absicherungen war es dann Mai 2014 soweit, Nicole wurde öffentlich sichtbar und ist es seit 23. Mai 2014 ausschließlich. Ein Zurück gab es und gibt es nicht mehr.
Was hat sich seitdem verändert?
So viel Und es ist so wunderbar.
Das erste, was natürlich wegfällt, ist die Heimlichkeit. Oh man, was für eine Erleichterung. Endlich gibt es da nicht mehr dieses große Geheimnis. Erst hinterher habe ich festgestellt, wie sehr mich alleine dies die ganzen Jahre belastet hatte. Dann waren da die ganze Outings, bei Freunden, Kollegen, Kunden. Die ganzen Ängste, die ich davor hatte, stellten sich als fast ausnahmslos unbegründet heraus. Ich habe so viele Menschen auf ganz neue und viel persönlichere Art kennengelernt, das war toll! Ich beneide fast die anderen, die jetzt erst damit anfangen – ich würde es jederzeit wieder tun. Die ersten Outings waren hart, weil ich Angst hatte. Doch das verging schnell und es wurde bald eher zu einem freudigen Ereignis, noch jemanden gefunden zu haben, die_der „es“ noch nicht weiß Von all den Befürchtungen, die mir zwischen den Jahren 2013 / 2014 noch den Angstschweiß auf die Stirn trieben, trat keine einzige in der Realität ein. Das muss nicht immer so sein, doch bei mir war es so und ich bin unendlich dankbar dafür. Der einzige Knick in dieser Erfolgsgeschichte ist mein Vater, der es bis heute nicht akzeptieren kann, seinen Sohn aus der Männerwelt an die Frauen verloren zu haben. Er nennt mich nach wie vor, stur wie ein Panzer, bei meinem alten Vornamen und „er“ als Pronomen. Jetzt war meine Beziehung gerade mit ihm nie sonderlich tief oder sonstwie intensiv, weshalb mir das, ehrlich gesagt, recht egal ist. Wer derart engstirnig, stur und verbort ist, dass man zwei Worte nicht zum Glück und Wohlbefinden des eigenen Kindes austauschen kann, nicht diesen kleinen Schritt auf das eigene Kind zu gehen kann, dann kann ich auf einen solchen Menschen im engeren Kreis meines Leben auch gut verzichten. Wir haben eine friedliche Coexistenz, aber nicht mehr.
Doch jetzt kommt der wirklich wichtige Teil, nämlich der, was dies nun alles mit mir gemacht hat.
Ich hatte die Macht der Psyche bereits angesprochen und ich bin heute davon überzeugt, dass sie viel mächtiger ist, als wir es mit unserem Verstand selbst begreifen können. Wir denken, wir könnten mit unserem rationalen Denken alles begreifen und durch einen reinen Willensakt beeinflussen. Können wir nicht. Denn nicht alles in uns ist Ratio. Wir haben Gefühle, Emotionen. Ohne diese wären wir Maschinen und keine Menschen. Emotionen sind das, was den Mensch zum Menschen macht.
Meine Gefühle und Emotionen waren, sobald ich merkte, dass da Gefühle in mir waren, die dort nicht hin zu gehören schienen, etwas, dass ich meinte stark kontrollieren oder sogar unterdrücken zu müssen. Das war kein rationaler und auch nicht bewusster Akt. Das war eher ein antrainierter Automatismus – „Jungs weinen nicht!“ also unterdrückte ich es. „Jungs spielen nicht mit Puppen.“ also war das offenbar falsch, also unterdrückte ich es. „Jungs tragen keinen Schmuck.“ also unterdrückte ich es etc. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dies in Frage zu stellen und schon gar nicht die Gemeinsamkeit all dieser Verbote in Frage zu stellen – „Jungs“. Wenn ich all dies für mich als richtig und erstrebenswert empfand, war dann vielleicht das „Jungs“ sein falsch? Oh nein, völlig unmöglich, da war das Ding zwischen meinen Beinen, also müssten diese Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle falsch sein, also weg damit.
Mit diesen einher verschwanden aber auch ganz andere Gefühle oder wurden derart stumpf, dass sie kaum noch wahrnehmbar waren. Ich konnte praktisch nicht weinen, fast egal wie groß der Druck war, den ich sehr wohl spürte. Doch ich konnte ihn nicht heraus lassen. Begriffe wie „schön“ waren für mich sehr problematisch, denn etwas als „schön“ zu empfinden ist eben eine Empfindung, ein Gefühl und das verunsicherte mich sehr. Ich kannte keine wirkliche Freundschaft – ich hatte gute Bekannte, ja, aber wenn man mich gefragt hätte, echte Freunde? Ich hätte nicht gewusst, wie man dies merken sollte. Ich kannte keine Liebe und ich war nie wirklich aus mir selbst heraus einfach glücklich.
Das alles weiß ich heute, in der Retrospektive wird es klar, doch damals, zuvor, vor dem Entschluss, war alles grau in grau und die Emotionen hinter großen, mächtigen Wällen verborgen.
Durch meine Transition, ja eigentlich sogar schon alleine durch den reinen Entschluss dazu, ohne auch nur irgendetwas tatsächlich verändert zu haben, außer mir selbst darüber sicher und gewiss zu sein, sind die Mauern eingestürzt und es erschloss sich mir eine wunderbare neue Welt der Menschlichkeit! Ich bin endlich ganz! Zu der funktionalen Maschine gesellte sich das Gefühlswesen und wir schreiten nun gemeinsam durch dieses Leben. Ich kann gar nicht beschreiben wie gerne ich nun mit ein paar Taschentüchern im Kino oder vor dem Fernseher sitze Wenn es warm ums Herz wird, die Wärme langsam aufsteigt und als Tränen der Freude oder der Trauer das sichtbarste Zeichen des Mitfühlens sind. Ich bin endlich in der Lage, Emotionen anzunehmen. Sie sind da, sie sind ein Teil von mir und ich nehme sie ernst, sie sind mir wichtig. Sie machen mich ganz, sie machen mich erst zum Menschen. Ich kann mich freuen, ich erkenne Freundschaft und ich liebe!
Zum ersten mal in meinem Leben bin ich aus mir selbst heraus einfach glücklich. Man könnte mir alles Materielle nehmen und ich wäre dennoch glücklich. Glücklich zu sein bestimmt sich nicht durch die Summe auf dem Bankkonto oder der Marke des Autos. Glück ist etwas, dass man nur in sich selbst finden kann. Ein gutes Essen, ein Dach über dem Kopf oder auch ein schönes Auto kann zwar etwas helfen, doch schlussendlich kommt es aus einem selbst und alles Materielle ist allenfalls ein Hilfsmittel. Würde ich heute, z.B. auch wegen meiner Transition, Materielles verlieren, ich wäre dennoch glücklich. Traurig über den Verlust, das ganz bestimmt. Aber dennoch für mich und mit mir selbst glücklich.
Tja, mein_e Liebe_r, Du hast nach Erfahrungen gesucht und nun ein paar bekommen. Ich kann Dir nicht sagen, ob Deine Unentschlossenheit an etwas ähnlichem wie bei mir hängt. Ich kann Dir auch nicht gut zureden und sagen, es würde schon alles gut werden. Das kann und sollte auch niemand. Ich kann Dir aber sagen, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Überlege Dir gut, was Du möglicherweise durch den Schritt verlieren könntest und wäge ab, ob Du damit zurecht kommen könntest. Denke dabei auch daran, dass das alles (noch) keine Einbahnstraße ist! Eine solche Entscheidung ist groß, keine Frage, aber sie ist keinesfalls irreversibel. Wenn es sich herausstellen sollte, dass es doch nicht das Richtige ist oder sich nicht die Verbesserung einstellt, die erhofft war, dann meine Güte, was soll’s? Dann wird eben das Rad zurück gedreht. Es wird oft so hingestellt, als wenn eine Transition etwas absolut Endgültiges wäre. Ist es nicht. Sicherlich gibt es Dinge, die dann etwas „kompliziert“ werden, aber hey, ist es nicht auch jetzt schon für Dich kompliziert? Also was soll’s. Ich kenne ein paar wunderbare Menschen, die die Rolle rückwärts gemacht haben. Natürlich sorgt das für viel Wirbel, aber es geht. Wichtig bist und bleibst einzig und allein Du bei der Sache. Dir muss es gut gehen, Du musst Dein Leben leben, Du musst damit glücklich werden.
Wer immer dies liest, wenn Du trans* bist, so wünsche ich Dir von Herzen für Deine Entscheidung viel Mut und vor allem alles Gute!